Barbette: Der „gender-bending“ Luftakrobat aus den 1920ern

28. Juni 2022 | News

Der Name „Barbette“ ist heute leider kaum noch jemanden ein Begriff – ganz anders in den 1920ern und 1930ern. Auf der Höhe ihrer Karriere galt sie aka Vander Clyde Broadway noch lange bevor „Drag“ bekannt war, als internationale „gender-bending“ Trapezkünstlerin. Playground war das Paris der roaring twenties, wo sich Barbette  u. a. mit Coco Chanel, Josefine Baker und Man Ray die Türklinke in die Hand gab. Sein bzw. ihr Charisma und außergewöhnliches Talent inspirierten u. a. den Poeten Jean Cocteau, Billy Wilder („Some Like It Hot“) und Alfred Hitchcock (Film „Murder!“).

Bonjour, Moulin Rouge!

Stell dir vor, du sitzt in einem Varieté-Theater im Paris der 1920er-Jahre. Dem place to be, für Künstler:innen, Exzentriker:innen und Avantgardist:innen. Plötzlich hörst du die Klänge eines stimmungsvollen Klaviers und Streichorchesters (wirf mal kurz auf Spotify Richard Wagner oder Nikolai Rimsky-Korsakov an).

Gespräche und Gelächter verstummen, du folgst dem Blick der anderen nach oben und dir bleibt der Atem stehen: Deine Augen heften sich an die Bewegungen einer Frau mit weißer Porzellanhaut und dunklen Lippenstift, die in ein fantasievolles Paillettenkostüm mit imposanten Hut aus Straußenfedern gekleidet ist. Doch sie steht nicht einfach nur auf einem Balkon, winkt und lässt ihre Präsenz und Schönheit für sich arbeiten. Nein, sie schwingt mit einer bis dahin noch nie dargebotenen akrobatischen Faszination und Anmut auf einem Trapez durch die Lüfte. Die Aerialistin zieht uns alle mit ihren Drehungen, Sprüngen und Tricks, die jeder Schwerkraft trotzen, in ihren Bann. Graziös landet sie am Boden und wir brechen in tosenden Applaus und Jubel aus.

© Ullstein Bild/Granger Winter Garden in Berlin in 1931

Ihre Lippen umspielt ein wissendes Lächeln, denn erst jetzt setzt sie zu ihrem letzten Akt und „signature move“ an: Sie reißt sich die blonde Lockenperücke vom Kopf und zum Vorschein kommt – ein Mann!

Darf ich vorstellen? Das ist Barbette aka Vander Clyde Broadway aus Texas (1899-1973).

Transformation: Vander Clyde Broadway wird Barbette

Manche Menschen spüren ihre innere Berufung schon in Kindheits- und Jugendtagen. Broadway (was für ein Nachname!) wusste nach seinem ersten Zirkusbesuch ganz genau, was er wollte:

Als sie [Anm.: seine Mutter] mich das erste Mal mit in den Zirkus in Austin mitnahm, wusste ich, dass ich Artist werden würde. Von da an arbeitete ich während der Baumwollpflücksaison auf den Feldern, um Geld zu verdienen, damit ich so oft wie möglich in den Zirkus gehen konnte.“

Den ersten Schritt auf diesem Karriereweg beschritt er, als die damals weltberühmten Alfaretta Sisters („World Famous Aerial Qeens“) ein neues Duomitglied suchten. Vander, der sich eigenständig Trapez- und Seiltanztricks beibrachte, überzeugte. Allerdings war er nun mal keine „sister“, weshalb er gebeten wurde, in Frauenkleidern aufzutreten:

She told me that women’s clothes always make a wire act more impressive … and she asked me if I’d mind dressing as a girl. I didn’t; and that’s how it began.“

Im Laufe der folgenden Jahre entwickelte sich Vander künstlerisch weiter und begann eine Solo-Karriere. Barbette war geboren. Ein Ausnahmetalent wie ihn konnte sich die damals führende Talentagentur „William Morris Agency“ nicht entgehen lassen und schickte ihn nach Vertragsunterzeichnung nach London und Paris. Vor allem Paris schien mehr als bereit für Barbette.

Auch in Wien begeisterte die Trapezkünstlerin und wurde von der berühmten österreichischen Fotografin Madame D’Ora porträtiert.

Dieses Video gibt einen Einblick in das Musical „Jumbo“ bei seiner Uraufführung 1935 in New York (obwohl es uns heutzutage natürlich das Herz bricht, die Zirkustiere zu sehen). Barbette ist ab Minute 04:34 zu sehen. Um Minute 05:22 ist sogar ihr signature move auf Video festgehalten.

Übrigens fand ich kurz vor Barbettes Sequenz auch die seeehr großen Aerial Hoops beeindruckend!

Vom Artisten zum Choreografen

Nach einem Sturz während eines Auftritts und einer späteren Pneumonie-Diagnose (chronische Entzündung des Lungengewebes) sah sich Barbette gezwungen, die aktive Artistenkarriere zu beenden. Trotzdem kehrte er der Szene nicht den Rücken und arbeitete fortan als Trainer und Choreograf für zahlreiche Zirkuskünstler:innen.

Als Coach unterstützte er u. a. auch Motion Pictures. Wenig Freude schien ihm allerdings die Zusammenarbeit mit Tony Curtis und Jack Lemmon für den Film „Some Like It Hot“ zu bereiten:

Jack and I had special training. And I do mean special. Billy remembered a man from his wild days in Europe. The man’s name was Barbette. He was a famous female impersonator orginally from Texas who had made a name for himself on the Continent. Billy’s plan was to have Barbette instruct Jack and me in the fine art — or was it science — of transvestism.

 

Barbette showed us things we’d never heard of. Or thought of. And we were trained actors. I mean, in the Navy they taught us to keep our butts tight, but I never did hear of sitting with the palms of your hands down so that you don’t flex your biceps. And then there was this business of walking with your legs slightly crossed in front. “Always cross one foot in front of the other,” said Barbette. “That makes your hips do something special. You’ll walk like a lady. You’ll swivel your hips. It’s feminine.” I managed it because it was kind of like dancing, and athletic discipline. But Jack wasn’t getting it. In fact, he was resisting. “Nobody does that. Man or woman,” he said. Jack was not going with the program.

 

Barbette was not pleased. One afternoon Jack and I reported for our lessons. Barbette was nowhere in sight. When we got to Billy’s office, he had a wry look on his face. “Where’s Barbette?” I asked. “I booked him passage on the Ile de France,” Wilder said. “He came to me and said, ‘I wash my hands of it,’ and left.”

Quelle: New York Post

Ein außergewöhnliches Leben fordert seinen Tribut

​Seinen Lebensabend verbrachte Barbette zurück in Texas bei seiner Schwester, wo er am 5. August 1973 an einer Überdosis Schlaftabletten starb. Es wird vermutet, dass er aufgrund seiner dauerhaft starken Schmerzen sein Leben bewusst beendete.

© Facebook „We love Barbette

Quellen

Während meiner Recherche bin ich auf ein paar Quellen gestoßen, die Barbettes schwungvoll nochmal zum Leben erwecken – inklusive diverser Zitate und Interviews. Dieser Blogbeitrag basiert u. A. auf folgenden Artikeln:

  • New York Post
    What a drag!”, Autor unbekannt, Oktober 2009
  • We love Barbette (Fangemeinde auf Social Media) #welovebarbette
    Facebook | Instagram

 

Hier geht unser nostalgischer Zirkusausflug zu Ende – ich hoffe, ihr hattet eine gute Reise!

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